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Sonntag, 23. Juni 2013

DQ & SP Detailkritik (7)



Lesen Sie heute – nach einer etwas längeren Pause –, was Jens Jürgen Korff zum sechsten Kapitel des „Don Quijote & Sancho Pansa“ im Einzelnen zu sagen hat!





Der Inhalt in Kurzfassung: 



Zum 6. Kapitel: Die Grundsatzfrage: der Streit zwischen Philosophie und Wissenschaft


132: Blöd nur, dass Don als einzige Begründung für seinen Unmut die Berufung auf traditionelle Herrenvorrechte der Philosophie einfällt. Sein Satz gegen Sancho, »Dir mangelt es an Bescheidenheit«, trifft den Nagel auf den Kopf. In der Tat ist das größte Problem der Naturwissenschaft ihr Hang zum Größenwahn. Zugleich ist dies auch das größte Problem der Philosophie. Geistes- und Sozialwissenschaftler treten dagegen in der Regel bescheiden auf. Was einer der Gründe dafür sein könnte, dass ihre Existenz zuweilen geleugnet wird…


133: »Alles ist Energie« – ein sinnentleerter Satz, sagt Sancho, von Leuten, die den Begriff nicht einmal definieren können – der aber, sage ich, dennoch in eine interessante Denk­richtung weist!


Sancho quengelt: Wir lassen uns nicht länger als »seelenlose Wissenschaft« in den Dreck ziehen. Schön, wenn er mal seine Subjektivität zeigt! Ich gebe ihm recht. Viele Wissen­schaftler arbeiten mit ihrer ganzen Seele und geben ihr Herzblut für ihre Tätigkeit. Wissenschaftler sind Menschen – und als solche haben sie leider auch die Atombombe erfunden, Nervengase, die rassistische Schädelvermessung und die Eugenik. Sancho behauptet: »In keinem wissenschaftlichen Dokument wird Hass gepredigt und den Feinden die Vernichtung angedroht.« Da kenne ich Gegenbeispiele: die rassistischen Thesen von Georg Meinders, den Sozialdarwinismus, die Thesen von Cyril Burt und Hans Jürgen Eysenck über angeborene Dummheit, die Forschungen Josef Mengeles über die physische Belastbarkeit von »Untermenschen«. Im Übrigen ist natürlich polemisch, wenn Sancho im Folgenden Philosophie mit Religion gleichsetzt. Auch Philosophie neigt im Allgemeinen nicht dazu, den Hass predigen. (Religion in der Regel auch nicht.)


Haben Philosophen schon mal etwas für die Weiterentwicklung der Menschheit gestiftet? Ja, Bertrand Russell 1963. Dass es insgesamt weniger Philosophen als Naturwissenschaftler sind, könnte damit zusammenhängen, dass es viel weniger Philosophen gibt als Naturwissenschaftler, und dass diese mit höherer Wahr­scheinlichkeit reich werden.


Sancho fragt nach Belegen für Dons Behauptung, dass Wissenschaftler den Anspruch verkündeten, nur sie könnten Aussagen über die Wirklichkeit machen. Diese Belege kann ich beibringen: Sancho Pansa auf Seite 59 oben. Sancho Pansa zitiert Wittgenstein auf Seite 76: »Die Gesamtheit der wahren Sätze ist die gesamte Naturwissenschaft.« Sancho Pansa auf Seite 98: »Versuche, den Kern zu erfassen…«


134: Menuett, Jazz und Blues - sehr schöne Beispiele von Don Quijote! Wenn Sancho doch mal darauf hören würde! Stattdessen versucht er tatsächlich, sich da noch herauszureden (Seite 135). Viel mehr Menschen verstehen die Wahrheit »Krieg« aus einer Betrachtung des Bildes »Guernica« als die Wahrheit über Energie aus einer Betrachtung der Formel E = mc². Aber das sind dann wohl wieder die falschen Menschen, Unbefugte ohne naturwissen­schaftliche Bildung. An dieser Stelle (und in seinen diversen Ausfällen gegen die Demo­kratie) fällt Sancho Pansa seiner Selbstinszenierung als Arbeiter und aktiver Bürger selbst in den Rücken.


136: Magritte hat mit seinem Bild gesagt: Dies ist keine Pfeife, sondern ein Bild (das eine Pfeife darstellt). Ob das Bild eine objektive Wirklichkeit darstellt  – dazu äußert er sich m. W. nicht. Wir sollen als Betrachter begreifen, dass die Pfeife durch die Augen, den Kopf und die Hand des Künstlers hindurchgegangen ist, bevor sie auf der Leinwand erschien. Eschers unmögliche Wasserfälle zeigen zum Beispiel die Wirklichkeit der Idee eines Perpetuum mobile, die im Sinne Meister Eckharts als actualitas (Seite 164) präsent war.


Haben Philosophen die Menschen schon einmal vor der Verzerrung der Werte gewarnt? Aber natürlich! Ich nenne als Beispiele Martin Buber, Rosa Luxemburg und Wladimir Lenin, die vor der Verzerrung der Werte im Ersten Weltkrieg gewarnt haben; Theodor Adorno, Max Horkheimer, Ernst Bloch und Walter Benjamin, die vor der Verzerrung der Werte im Zweiten Weltkrieg gewarnt haben; Günther Anders und Bertrand Russell, die vor der Verzerrung der Werte im Atomkriegszeitalter und im Vietnamkrieg gewarnt haben. Viele dieser Interventionen  –die von Naturwissenschaftlern, die von Philo­sophen und anderen – haben sehr wohl etwas genutzt. Ein Atomkrieg zum Beispiel wurde verhindert.
Sanchos Rechtfertigung der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki ist eine Geschichts­klitterung. Es ist erwiesen, dass Japan auch ohne die Atombomben kurz vor der Kapitulation stand. Die Bomben dienten der amerikanischen Regierung vor allem als Machtdemonstration gegenüber der Sowjetunion.


137: Don Quijotes Hinweis auf die Humanmediziner in den Nazi-Konzentrationslagern verdiente es, ernsthaft diskutiert zu werden. Wir blicken dort nämlich in den Abgrund des Subjekt-Objekt-Grabens, von dem Hans-Peter Dürr spricht: Nur wer sich selbst als Subjekt aus dem Zusammenhang des Lebendigen und der Menschheit komplett hinausdefiniert, ist zu solchen Verbrechen fähig wie Mengele – sagt Dürr, und ich stimme ihm zu. Leider macht Don Quijote in der Debatte den Fehler, danach auch noch die Kettensäge zu erwähnen, und gibt so Sancho Pansa den Ausweg frei, der sich mit einem typischen Spießerschmarren aus der Bredouille rettet.


Guter Hinweis Don Quijotes auf die von kapitalistischen Interessen gesteuerten Wissen­schaftler. Ja, manche Wissenschaftler haben sich im Interesse der Menschheit aufgeopfert. Philosophen aber auch: Sokrates trank den Schierlingsbecher. Miguel de Unamuno trat den spanischen Faschisten im Bürgerkrieg mutig entgegen und fand für ihre Parole »Viva la muerte!« den passenden Begriff »nekrophil«. Erich Fromm griff den Begriff später wieder auf.[1]


138: Sanchos Ausfall gegen die monotheistischen Religionen und speziell gegen die katholische Kirche ist natürlich extrem einseitig und fanatisch. Ihre angeblich inhumanen Dogmen, zum Beispiel die zehn Gebote, spiegeln zum großen Teil ethische Erkenntnisse wider, auf die Menschen in sämtlichen Kulturen und Religionen gekommen sind. Dass man seine Mitmenschen nicht töten oder nicht bestehlen darf, darauf kommen auch vernunft­geleitete Humanisten. Und was die Frauenverachtung in Christentum, Islam und Judentum betrifft: Daran haben sich jahrhundertelang leider auch die meisten Wissen­schaftler orientiert. So haben sie zum Beispiel »bewiesen«, dass Frauen mit ihrer Emotio­nalität und Sexualität für die »Manneszucht« und damit für die Übernahme von Verantwortung in der Gesellschaft ungeeignet seien, oder sie haben »bewiesen«, dass Frauen nicht kreativ sein könnten, weil sie überhaupt keine Sexualität besäßen. Je nach den aktuellen ideologischen Erfordernissen der gerade herrschenden Männer.


139: Eine interessante Auseinandersetzung zwischen SP und DQ um die Frage, wo sich geistige Entitäten befinden. Auch Dinge, die nur als Begriffe oder Bilder in den Köpfen von Menschen existieren, existieren – weil sie das Denken und Handeln von Menschen beeinflussen und zum Beispiel Gestalt in Form von Kunstwerken oder Literatur annehmen. Offenbar ein weiterer Irrtum Wittgensteins, wenn er wirklich die Existenz solcher Dinge bestritten haben sollte.


140: Ach ja, Señor Pansa kann das Gerede von der Bombe nicht mehr hören. Er könnte es leicht abstellen, indem er einmal, ein einziges Mal, diesen schrecklichen Irrweg der Physiker bedauerte. Doch er bleibt unbelehrbar. Der faschistische Physiker Wernher von Braun pflegte alle Fragen nach dem Zweck der von ihm erfundenen Raketen mit dem Satz zu beantworten: »That is not my department. Dafür bin ich nicht zuständig.« Joseph Weizenbaum erlaubte sich deshalb die Frechheit, den Titel von Brauns Autobiografie »I Aimed For the Stars (Ich zielte nach den Sternen)« so fortzusetzen: »but sometimes I hit London (aber zuweilen traf ich London)«.


Dann Sancho wieder: »Wir kümmern uns nur um das, was ist.« Ein weiterer Beleg für Don Quijotes These auf Seite 133. Die Naturwissenschaftler erklären sich für all- und alleinzuständig für die gesamte Wirklichkeit – indem sie einfach alles, was ihnen nicht passt und über das nichts sagen können, aus der »harten Wirklichkeit« hinausdefinieren. Siehe oben Wernher von Braun. Geistes- und Sozialwissenschaftlern würde solcher Unfug niemals einfallen.


141: Dieser Wittgenstein ist mit seiner bornierten Fixierung auf die Naturwissenschaftler ein echtes Schätzchen.


142: Dass die Behauptungen der Philosophen jeder glaubt, ist natürlich barer Unsinn. Das Problem der meisten Philosophen besteht ja gerade darin, dass ihre Thesen – anders als die Thesen von Genetikern oder Hirnforschern – so gut wie niemand glaubt.


143: Hier verbreitet zur Abwechslung Don Quijote einen Irrtum über Geistes- und Kulturwissenschaften. Nein, es trifft nicht zu, dass die Naturwissenschaften Daten und Fakten liefern, die Geisteswissenschaften dagegen Sinn, Bedeutung usw. Beide Wissen­schaftsgattungen liefern Daten und Fakten, und beide Wissenschaftsgattungen liefern auch Sinn, Deutung und Bedeutung. Es ist ein Datum und Faktum, dass deutsche Soldaten am 1. September 1939 Polen überfallen haben, und es ist eine Deutung, dass die Menschen keinen freien Willen hätten, weil ihnen ihre Willensentscheidung immer erst eine halbe Sekunde später bewusst werde.


Sancho fragt keck (mit Einschränkung): Was ist dagegen ein Mozart? So will ich denn versuchen, diese Frage zu beantworten. Anders als die Werke Keplers, Galileis, Brunos, Darwins und Freuds werden die Werke Mozarts jeden Tag von Millionen von Menschen auf der ganzen Welt genossen. Die Menschen widmen den Werken Mozarts also viel mehr Aufmerksamkeit als den Werken der anderen genannten Genies. Was macht das mit den Menschen, was bewirkt das? Es vergrößert die Lebensfreude dieser Menschen und erfüllt damit einen Maßstab, den Sancho weiter oben selber aufgeführt und für die Wissenschaft in Anspruch genommen hatte. Es lässt Leute gesund werden. Es lässt Leute friedfertig werden. Es bringt die Menschen verschiedener Völker miteinander in Verbindung, genau wie die Wissenschaft oder der Sport. Es hilft den Menschen, sich in einer rasenden und ständig verändernden Umwelt zu entspannen und Ruhe zu bewahren. Es hilft ihnen, nicht verrückt zu werden. Hier nähern wir uns einem generellen Denkfehler Sanchos und vieler Naturwissenschaftler: Sie glauben offenbar, dass nur die Veränderung eines Zustands eine Wirkung darstelle. Deshalb halten sie Künste wie die Musik oder die Literatur für wirkungslos. Es stellt aber eine Wirkung dar, wenn Menschen in Zuständen, die sie eigentlich krank machen müssten, gesund bleiben. Mozart hat mit seiner Musik vielleicht einige der wirkungsmächtigsten Rückkopplungen für die menschliche Gesellschaft geschaffen.


Auf der anderen Seite der Gleichung möchte ich übrigens glatt bezweifeln, dass die Tatsache, dass sich die Erde um die Sonne dreht, den Alltag der Menschen wesentlich beeinflusst. Die Tages- und Jahreszeiten ließen sich auch mit dem alten Weltbild erklären. Ähnliches gilt für die Frage, ob es das Higgs-Boson gibt oder nicht. Was Hawking u.a. großmundig als „Theory of Everything“ verkaufen, kann ich persönlich lesen oder es sein lassen; das wird meinen Alltag nicht verändern. Bei Darwin und Freud sieht die Sache anders aus; deren Ergebnisse spielen heute eine größere Rolle in der alltäglichen Gesellschaft.


Gut beobachtet von beiden, auf welche Widerstände stößt, wer philosophische oder wissenschaftliche Erkenntnisses allgemeinverständlich publizieren möchte. Offenbar leiden beide Disziplinen unter dem gleichen Hochmut, der gleichen Arroganz gegenüber dem angeblich dummen Publikum. In den Gesprächen hier allerdings blieb dieser Part vor allem Sancho vorbehalten.


145: Da kommt schon der nächste Beleg: Beamte und Politiker sind unfähig, meint Sancho. Ich selber habe schon viele Beamte und Politiker persönlich kennen gelernt, und kein einziger davon war unfähig. Es scheint sich hier also um ein dummes Vorurteil, ein klassisches Dogma zu handeln.


147f: Auch die ganze Geschichte mit den Kränkungen der Menschheit erscheint mir als Dogma. Warum sollte es eine Kränkung sein, dass die Erde um die Sonne kreist? Dass die Menschen von Affen abstammen und dass sie in ihrem Handeln nicht immer von der klaren Vernunft geleitet sind? Mich persönlich hat noch keines dieser Erkenntnisse gekränkt. Ich empfinde diese Vielfalt und Komplexität eher als Bereicherung. Wie geht es Ihnen denn damit persönlich, Herr Beetz?


148: Es ist schon erstaunlich, Sancho über die Hybris der Menschen reden zu hören, aber niemals über die Hybris der Naturwissenschaftler und vor allem der Techniker und Techno­kraten. Er erkennt zwar in seinen lichten Momenten an, dass die Naturwissenschaft nicht alles erkennen und nicht alles im Griff haben kann, verweigert sich aber konsequent gegenüber der historischen Erkenntnis, dass viele seiner Kollegen das jahrzehntelang ganz anders gesehen – und in ihrer Verblendung viel Unheil angerichtet haben.


149: Don Quijote zitiert Gerhard Vollmer. Dieser vorauseilende Gehorsam von Philosophen gegenüber Neurobiologen ist höchst ärgerlich und eine der größten Schwächen der aktuellen Philosophie, der leider auch mein Freund Precht erlegen ist.


Sancho: »Wir machen nur unseren Job, und der hat mit Sinn, Wert oder Würde nichts zu tun.« Da spricht er wieder: Wernher von Braun, wie er leibte und lebte. Die Menschen­würde – zu der es übrigens interessante aktuelle Philosophendebatten gibt[2] – haut er gleich ganz weg, weil sie so schwer zu definieren sei. Als ob die Zeit, die Gravitation oder das Licht leichter zu definieren wären (siehe Seite 151)!


Hier also meine Definition der Menschenwürde: Indem wir allen Menschen eine Würde zusprechen, würdigen wir die Fähigkeit eines jeden Menschen, seinen Mitmenschen Gutes zu tun. Weil er diese Fähigkeit hat, ist es falsch, einen Menschen zu töten oder so zu quälen, dass er nichts Gutes mehr tun kann. Geht doch! Zwei Sätze reichen.


»Wissenschaft eröffnet den Blick auf neue Schönheiten, auf die Wunder des Lebens…« Schön gesagt von Sancho!


152: Gut gesehen von Don: In den Begriffen »Weltformel« und »Theorie von allem« steckt eben doch die Hybris der Physiker.


Gute Frage von Don Quijote, ob anständige Wissenschaftler bestimmte gefährliche Fragen einfach nicht erforschen sollten. Zum Beispiel künstliche Viren oder Bakterien, gegen die es keinen Schutz mehr gibt, oder intelligente und bewaffnete Roboter, die die Weltherrschaft erringen könnten. Genau das ist das größte Zukunftsproblem der Naturwissenschaft und Technik – und es ist hausgemacht! Es ist nirgendwo anders entstanden als im Bereich der Naturwissenschaft und der Technik, im Department Braun.


153: Die Guillotine allerdings hatte tatsächlich zwei Seiten und wäre insofern ein gutes Beispiel für Wernher von Brauns Verteidigungsplädoyer. Ihr Erfinder, der Arzt Guillotin, hielt sich nicht für zuständig für die Frage, ob Menschen hingerichtet werden müssen oder nicht. Ihm ging es einzig und allein darum, die Hinrichtung technisch so zu optimieren, dass die Delinquenten keine Zeit mehr hatten, während ihrer Tötung zu leiden und zu schreien.


Wissenschaftliche Erkenntnisse spielen bei Philosophen kaum eine Rolle, meint Sancho. Eine ziemlich gewagte Behauptung! In Prechts Buch »Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?« wimmelt es zum Beispiel von neurobiologischen und psychologischen Erkennt­nissen. Precht bezieht fast alle philosophischen Fragen, die er dort diskutiert, auf solche Erkenntnisse. Und auch er lässt leider geistes- und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse als Quellen philosophischer Fragen weitgehend aus.

Fortsetzung folgt.
Jens Jürgen Korff
September 2012


[1]     E. Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Reinbek 1977 (Rowohlt), S. 372
[2]     Der Wert der Menschenwürde. Hg. v. Christian Thies, Paderborn 2009 (Schöningh)
 




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