Im Dezember 2015 erschienen:
Wie Rückkopplung unser
Leben bestimmt und die Natur, Technik, Gesellschaft und Wirtschaft beherrscht
Rückseitentext
Feedback wird im breiteren Sinne als Rückkopplung
verstanden, nicht nur als verbale Rückmeldung. Rückkopplung ist das Rückführen
der Wirkung auf die Ursache – und die verblüffenden Effekte sind in allen
Lebensbereichen anzutreffen.
Der Wissenschaftsautor Jürgen Beetz spricht Sie
als Leser direkt an und entdeckt mit Ihnen
- Geschichten des Alltags mit merkwürdigen Feedback-Effekten,
- die Selbstbezüglichkeit und die daraus entstehenden Widersprüche
- die Eigenschaften komplexer dynamischer vernetzter Systeme,
- das Wesen der Rückkopplung, das aus diesen Bedingungen hervorgeht,
- Rückkopplungseffekte in der Technik, der Natur, der Gesellschaft, der Politik, der Wirtschaft ... und im Rest der Welt,
- das „mächtigste Konzept der Welt“, die Evolution.
Sie verstehen, was passiert, wenn die Wirkung zur
Ursache wird. Rückkopplung bestimmt unser Leben. Sie scheint oft im Verborgenen
zu wirken. Wir bemerken sie erst, wenn sie ihr Werk schon getan hat. Manchmal
voller Zufriedenheit, wenn sie stabilisierend war, aber oft mit Schrecken, wenn
sie sich in einem „Teufelskreis“ aufgeschaukelt hat. Noch weniger ahnen wir,
wie schwer sie oft zu durchschauen oder gar zu beherrschen ist. Aktuelle Krisen
mit oft hochkomplexen Rückkopplungen führen uns das täglich vor Augen. Nach der
Lektüre dieses Buches sehen Sie genauer hin.
Stimmen
zum Buch
„Ein wichtiges Buch, das das Prinzip der
Rückkopplung als Grundelement kreativer Entwicklungen in Natur und Gesellschaft
in all seinen Facetten beleuchtet.“
Prof.
Dr. Bernd-Olaf Küppers
Friedrich Schiller
Universität Jena
„Dieses Buch beschreibt sehr anschaulich, dass
Systeme in Natur, Technik und Gesellschaft ohne feedback nicht – oder nur sehr ineffizient – funktionieren könnten.
Es zeigt, dass Rückkopplung ein zentrales Prinzip darstellt, das das Verhalten
von Systemen zum Besseren (bei falschem Gebrauch aber auch zum Schlechteren)
verändern kann. Es ist deshalb eminent wichtig, die Bedeutung und das Potential
dieses Prinzips zu erfassen. Dies ermöglicht dieses Buch in leicht lesbarer
Weise.“
Prof.
Dr. Jörg Raisch
Technische Universität
Berlin, Fachgebiet Regelungssysteme
Max-Planck-Institut
für Dynamik komplexer technischer Systeme
Das Prinzip der
Rückkopplung findet man in vielen
Bereichen der Natur und Technik. Rückkopplungen
sind Teil von natürlichen und technischen Prozessen und sowohl in Form von
Materie als auch Informationsfluss zu beobachten. In Kombination mit „feedforward“
wird häufig ein gutes Gesamtverhalten erreicht. Der Autor hat viele
Beispiele untersucht und in einem weit gespannten Bogen dargestellt. Zu dieser
interessanten Entdeckungsreise sind nun die Leser eingeladen.
Prof. Dr.-Ing. Dr. h.c. Rolf Isermann
Institut für Automatisierungstechnik und Mechatronik
Institut für Automatisierungstechnik und Mechatronik
Forschungsgruppe Regelungstechnik und
Prozessautomatisierung
Technische Hochschule Darmstadt
Technische Hochschule Darmstadt
Vorwort
Gazellen sind schnelle Läufer. Sie müssen dies sein, um
den Geparden davonlaufen zu können. Was häufig nicht gelingt, denn sie sind die
Hauptbeute dieses schnellsten Laufjägers. Gejagte und Jäger gelten als Lehrbuchbeispiele
für Co-Evolution. Die Effizienz der Geparde wirkt zurück auf die Gazellen.
Diese wiederum verbessern den Sprint ihres Feindes; ein endloser „Wettlauf“ auf
Leben und Tod. Er mündete in einer Art Patt. Nennenswert schneller zu werden
geht nicht mehr. Die energetischen Kosten wären zu hoch. Für beide Beteiligten.
Beispiele dieser Art gibt es mehr als genug. Stimmen sie auch? Den Evolutionsbiologen
wird mitunter vorgehalten, sie würden (nur) „um zu“-Erklärungen liefern. Solche
seien nicht zulässig, denn die Evolution hat kein Ziel. Das Leben lebt in der
Gegenwart und muss sich an das halten, was aus der Vergangenheit überkommen
ist, weil es überlebt hat. Die Falle der „um zu“-Erklärung ließe sich jedoch vermeiden,
wenn der erweiterte naturwissenschaftliche „Systemansatz“ verwendet würde.
„In Systemen
zu denken“ fällt nicht nur in der Evolutionsbiologie schwer. Wirtschaft, Politik,
auch große Teile der Umweltwissenschaften bleiben in der nachgerade primitiven,
jedoch sehr erfolgreichen, rein kausalen Denkweise verhaftet. Dass jede
Änderung eine Ursache, eine Verursachung, haben muss, ist klar. Das Denkprinzip
„Ursache =>
Wirkung“ hat sich bewährt. Vollständig ist es allerdings nicht. Es fehlt die
Rückwirkung. Wir müssen diese bedenken, wenn es um „Eingriffe“ oder
Lenkungsmaßnahmen geht. Die Folgen wirken zurück! Nicht nur in der Natur,
sondern auch in Politik und Gesellschaft. Besonders deutlich prägt die
Rückwirkung den Prozess der Evolution: Neues entsteht über Rückkoppelungen,
weniger aus dem Zwang der Notwendigkeiten („Anpassung“). Es taucht
unvorhersehbar auf. Wie uns das „Denken in Schleifen“ das Neue verständlich
macht und was es allgemein leistet, davon handelt dieses ebenso bemerkenswerte,
wie wichtige Buch. Es verbindet
Evolutionsbiologisches mit vielen anderen, besonders auch gesellschaftlich
relevanten Themen.
Prof. Dr. Josef H.
Reichholf
Evolutionsbiologe & Ökologe
Ehem. Leiter der Abteilung Wirbeltiere, Zoologische Staatssammlung
München
& Honorarprofessor der
Technischen Universität München
Mitglied der Kommission für Ökologie der Bayerischen Akademie der
Wissenschaften
Vorbemerkung des Autors
„Alles hängt mit allem zusammen“ – diesen Spruch hört man
oft von Esoterikern, und alle nicken tiefsinnig. Es ist sogar eine
der wichtigsten Grundvorstellungen des tibetischen Buddhismus. Jetzt fehlt noch
„die alles umfassende Liebe“ und schon ist man in der transzendenten Sphäre
fernöstlicher Weisheit gelandet. Und damit jenseits unserer Wirklichkeit (die
einen ja oft erschreckt und ängstigt, weil sie so undurchschaubar ist – weshalb
man sich an solche „einfachen Wahrheiten“ klammert).
Aber das ist natürlich Unsinn! Mein gelber
Plastikeierbecher hängt nicht mit einem Kaninchen-knochen im australischen Busch
zusammen und auch nicht mit dem Vorderreifen eines Autos in Kalifornien. Oder
vielleicht doch? Vielleicht stammen die Kohlenstoffatome in diesen drei Dingen
alle aus demselben Stern?! Aber das ist erstens ziemlich unwahrscheinlich,
zweitens nicht nachzuweisen und drittens völlig bedeutungslos. Der Rationalist
stößt sich nämlich am Wörtchen „alles“ und formuliert es lieber korrekt: „Es
hängt mehr miteinander zusammen, als man denkt.“ So kommen wir der Wirklichkeit
näher, und zwar im doppelten Sinn. Denn „Wirklichkeit“ kommt ja von
„Wirkung“ – und die muss nach
allgemeiner Meinung eine Ursache haben. Oder – wie gesagt – mehrere oder gar
viele, ein ganzes Netz von Ursachen und Wirkungen. Und das ist unser Thema. Wie
hängen Ursachen und Wirkungen zusammen? Vielleicht beißen sie sich wie die
Katze in den Schwanz und formen gar einen „Teufelskreis“?! Diesen Fragen wollen
wir in unterschiedlichen Gebieten anhand vieler Beispiele nachgehen.
Das Thema fasziniert mich seit meiner ersten Begegnung mit
meinem großartigen Lehrer Winfried Oppelt, in dessen „Handbuch
technischer Regelvorgänge“ ich noch gerne schaue. So einfach das Prinzip ist,
so nahezu unüberschaubar ist die Vielfalt der darauf beruhenden Erscheinungen
und der mit ihm zusammenhängenden Themen. Wir werden sie alle ausführlich
beleuchten und ihr komplexes Zusammenwirken illustrieren.
Ich habe versucht, Fakten und Tatsachen zu schildern und
Zusammenhänge zwischen ihnen herzustellen. Aber natürlich, wenn man alles
zusammenkocht, scheint auch das durch, was Wikipedia® POV (point of view) nennt: ein Standpunkt. Obwohl ich es lieber ein
Weltbild nennen
würde, denn der Mathematiker David Hilbert sagte: „Manche Menschen haben einen
Gesichtskreis vom Radius null und nennen ihn ihren Standpunkt.“ Dieses Weltbild
müssen Sie nicht teilen, aber es sollte Ihnen zu denken geben. Im wahrsten Sinn
des Wortes. Denn: „Nicht die Dinge verwirren die Menschen, sondern die
Meinungen über die Dinge.“[1]
Dies ist keine Doktorarbeit, in der Neues präsentiert
werden muss. Es handelt sich um vorhandenes, zum Teil weit verbreitetes Wissen.
Bibliotheken sind voll davon. Oft ist es im Internet nachlesbar (mit Hilfe der
im Register genannten Stichwörter), vor allem in den großen Enzyklopädien. Aus
Gründen der Lesbarkeit wurde weitestgehend auf Fußnoten verzichtet, aber im
Text wird auf alle verwendete Literatur hingewiesen (z. B., wenn ein Autor oder
ein Buchtitel genannt wird), und sie wird im Literaturverzeichnis angegeben. Mein
Vorhaben war es, die Dinge und Tatsachen zusammenzutragen wie ein Eichhörnchen
die Nüsse. Harte habe ich zu knacken versucht, um zu ihrem Kern vorzudringen.
Ich habe versucht, Querverbindungen und Gemeinsam-keiten aufzuzeigen. Es wurde
„nur“ Wert auf die verständliche Darstellung von Zusammenhängen und eine klare
Sprache gelegt. Sie werden Fachbegriffen begegnen: Fremdwörtern („Symbiose“),
die erklärt werden (oft mit ihrer Wortherkunft), und Begriffen aus der
Alltagssprache („Rückkopplung“), die in unserem Thema eine eingeschränkte oder
spezielle Bedeutung haben. Und manchmal beides in einem – ein in die
Alltagssprache gewandertes Fremdwort mit einer ungewohnten Bedeutung („Funktion“).
Ich habe auch freizügig Gebrauch von Anführungszeichen gemacht für Begriffe,
die ohne großes Nachdenken umgangssprachlich verwendet werden, bei genauerem
Hinsehen aber durchaus diskussionswürdig sind.
Wir werden uns in unterschiedlichen Fachgebieten bewegen,
aber ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit oder Detailtreue. Es ist ja klar,
dass keines der vielen Gebiete, auf denen Feedback
eine Rolle spielt, hier auch nur annähernd vollständig behandelt werden kann. Niemand ist mehr in der Lage, Ihnen „die
Welt zu erklären“. Selbst in einem engen Wissensgebiet (z. B. Molekular-biologie
oder Quantenphysik) braucht es Jahre des Studiums, um sich das gesamte Wissen
zu erarbeiten (sofern das überhaupt gelingt). Sie sollen hier nur den engen
Horizont der unmittelbaren Erfahrung überschreiten lernen und erkennen können,
was sich hinter den oft verwirrenden Erscheinungen abspielt. Die Beispiele aus
verschiedenen Bereichen (in Kapitel 1 und ab Kapitel 5) sind willkürlich ausgewählt und weder repräsentativ
noch umfassend. Vielleicht fragt die eine oder andere Fachperson für das Gebiet
XY verwundert: „Warum hat er denn nicht daran
gedacht?! Das ist doch ein Paradebeispiel für Feedback!“ Daran zweifle ich nicht, weil es unausweichlich ist –
allein der Begriff „Teufelskreis“ hat im Internet über zwei Millionen
Fundstellen. Dann kann ich nur entschuldigend sagen: „Da sieht man mal, wie
weit verbreitet das Prinzip der Rückkopplung ist.“ Es fehlt hier an fast allem
auf diesem Gebiet, von a („autogenes
Training“) bis z („Zyklon“). Doch um
mit Johann Wolfgang von Goethe zu sprechen: „In der Beschränkung zeigt sich
erst der Meister.“ Aber das ist vermutlich etwas zu unbescheiden.
In den letzten 100 Jahren haben sich (wie in den
Jahrhunderten davor) wissenschaftliche Revolutionen ereignet und unser Weltbild verändert, zum Teil sogar umgestülpt. Vieles
davon ist in das öffentliche Bewusstsein gedrungen. Doch in einem Teilbereich
fehlt dieses grundsätzliche Verständnis noch: dort, wo wir es mit einer
nichtlinearen Dynamik und rückgekoppelten Regelkreisen zu tun haben. Diese
Begriffe sagen Ihnen nichts? Sag’ ich doch! Was das ist und was das für uns
bedeutet, davon handelt dieses Buch. Denn evolutionsgeschichtlich stehen wir an
einem Scheide-punkt: Eine Spezies verändert nachhaltig die Umwelt, die sie erst
hervorgebracht hat. Doch wir haben unsere Lektion noch nicht gelernt. Obwohl der
amerikanische Mathematiker Norbert Wiener schon 1948 das Buch „Kybernetik. Regelung und
Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine“ schrieb. Unser
Frühmenschen-Gehirn ist zwar ein Überlebensinstrument, aber offensichtlich nur für
eine einfache lineare Welt, in der eine
Wirkung eine Ursache hat und damit basta! Nichtlineare Zusammenhänge,
vernetzte Systeme, rückgekoppelte Prozesse durchschauen wir nicht – wenn wir
sie überhaupt erkennen. Ein Wunder, dass wir es so weit gebracht haben!
Und schließlich eine letzte Bemerkung: Alle nachstehenden
Geschichten verwenden das sogenannte generische Masukulinum, also zum Beispiel
Trainer statt Trainer/-in, weil ich mich für eine bessere Lesbarkeit im
Interesse aller Leserinnen und Leser entschieden habe. Im Übrigen war auch das
Schreiben dieses Buches ein Feedback-Prozess:
Die Ideen kommen beim Schreiben wie der Appetit beim Essen.
[1] Ausspruch des antiken
griechischen Philosophen und Stoikers Epiktet (ca. 50–138 n. Chr.).
Leseproben
Das allgemeine Prinzip wird mit einer kleinen Geschichte illustriert:
1.2. Der Kadett lernt steuern
In aller Welt setzt die Marine Segelschulschiffe ein, um
jungen Kadetten die Grundlagen der Seemannschaft beizubringen. Es fördert den
Teamgeist, es bildet den Charakter. Man lernt sogar nützliche Dinge, die man
auch später auf einem Schnellboot gebrauchen kann. Zum Beispiel Kurs zu halten. Auf hoher See kann man nicht einfach auf einen
Punkt zufahren, einen Berg oder einen Kirchturm, denn man sieht ja nur Wasser.
Der Kurs wird am Kompass abgelesen. Von oben gesehen sieht er aus wie in Abbildung 1.2 links. Er hat eine Gradeinteilung, und 360° zeigt
genau nach Norden. Sieht man von schräg vorne darauf, dann sieht man, dass das
Schiff im Augenblick den Kurs 240° fährt (Abbildung
1.2 rechts).
Abbildung 1.2: Eine Windrose und ein Kompass
Neben unserem Kadetten steht der erfahrene Steuermann. Sie
zum Beispiel. Jetzt habe Sie das Kommando und der Offiziersschüler muss folgen.
Sie übergeben das Ruder (so sagt man auf einem Schiff zum Steuer, mit dem man
nicht rudert, sondern steuert) an den neuen „Rudergänger“ (so der Fachausdruck). „Kurs
240“, sagen Sie knapp und der Rudergänger bestätigt, wie es Vorschrift ist: „Kurs
240. Aye, aye, Sir!“
Nun kann man auf einem Schiff nicht das Ruder feststellen
und es fährt stur diesen Kurs. Wind und Wellen drehen es seitlich weg, sei es
auch noch so behäbig. Also schauen Sie nach zwei Minuten wieder hin und sehen
„245“ auf der Anzeige. Nun ist an Bord keine Zeit für lange Erklärungen oder Hinweise,
deswegen sagen Sie einfach, mit Betonung auf dem Zahlenwert: „Kurs 240, Maat!“ Der Rudergänger hat es auch
schon bemerkt, und deswegen bilden sich leichte Schweißperlen auf seiner Stirn.
Er hatte schon ein wenig gegengesteuert, also so getan, als wolle er 235
fahren. Aber das Schiff ist groß, schwer und träge. Also legt er noch ein wenig
mehr Ruder.
Jetzt beginnt es sich zu bewegen: 245 – 240 – 235 – … Es
schwenkt zügig über den gewünschten und befohlenen Kurs hinweg, und der arme
Kadett versucht diese Drehbewegung aufzufangen. Er steuert wieder dagegen,
diesmal in die andere Richtung. Das verdammte Schiff aber dreht sich weiter,
ist schon bei 230. Endlich zeigt das Ruder eine Wirkung. Die Kompassnadel
bewegt sich wieder auf die 240 zu.
Der Rudergänger atmet auf, aber er freut sich zu früh.
Weil er in seiner Panik bei 235 noch einmal kräftig am Rad gedreht hatte, dreht
sich das Schiff jetzt flott über die 240 hinaus zur 245, dann zur 250. Innerlich
grinsen Sie ein wenig, lassen es sich aber nicht anmerken. Denn Sie sind ein
erfahrener Steuermann und er nur ein einfacher Kadett. Sie wissen, dass er
weiß, dass Sie wissen, dass es so schiefläuft. Denn das kann nicht richtig
sein. Er kennt den verächtlichen Spruch: „Der fährt ja wieder Pissbögen!“ Jetzt
hat er gelernt, wie er es nicht
machen darf. Aber was kann er tun? Er blickt Sie fragend an.
Sie sagen etwas von „Antizipation“. Ein Wort, das er nicht
versteht. Sie erklären es: vorausschauendes Handeln. Er darf das Steuerrad
nicht zu weit drehen, obwohl er es möchte, denn das System reagiert träge. Das
ist die eine Regel. Die andere erfordert schon ein wenig mehr Gefühl: Er muss
an der Kraft auf dem Ruder merken, wenn eine Welle das Schiff zu drehen
versucht. Denn das Ruderblatt am Heck des Schiffes wirkt über die Seilzüge auf
das Steuerrad zurück – so, wie Sie beim Autofahren in der Kurve eine Rückstellkraft
am Lenkrad spüren. Auf diese Kraft muss er reagieren und nicht auf die viel
später einsetzende Änderung der Kompassanzeige.
Vier Tage und ein paar hundert Seemeilen später steuerte
der Kadett mit stolzgeschwellter Brust das Schiff wie auf einem Lineal durch
die See, unbeeindruckt von Windböen und Wellenschlag. Das Prinzip war von
seinem Verstand in sein Unterbewusstes gewandert. Die Art seiner Regelung des
Kurses hatte sich verändert: Die Kompassanzeige war nur noch ein Hilfsmittel
zur Nachkorrektur, nicht mehr die Größe, die seine Gegenreaktion auslöste. Denn
ein Gegensteuern, also im Fachjargon eine „negative Rückkopplung“, war es immer noch. Doch
nicht die Abweichung der zu regelnden Größe (des Kompasskurses) vom Sollwert bewirkte seinen Eingriff, sondern ein damit
zusammenhängendes, aber früher bemerkbares Signal: der Ruderdruck. Das verkürzt
die Reaktionszeit des Systems.
Das wiederum erhöht die Stabilität, vermindert also die
Abweichung vom Sollwert. „Sollwert“, so heißt in der
Fachsprache der Wert, den das System einnehmen soll. Daher der Name. Das, was
der Steuermann dem Rudergänger vorgegeben hat. Der „Istwert“ dagegen ist der
augenblickliche Wert des Systems – das, was der Rudergänger am Kompass abliest.
Stabilität – das ist es, was wir in der Regel von einem Feedback erwarten. Aus einem unkontrollierten Prozess
(der offenen Kette von Ursache und Wirkung aus dem ersten Beispiel) soll ein
geregelter Prozess werden, der unter kontrollierten Bedingungen
stabil bleibt.
Wir sehen hier also einen wesentlichen Unterschied:
„Steuerung“ ist sozusagen eine „offene Wirkungskette“ ohne
Rückmeldung und Korrektur. Das Steuer wird auf einen bestimmten Wert festgelegt
(„Kurs 240“) und dann festgebunden. Keiner kümmert sich mehr darum, wohin das
Schiff wirklich fährt. „Regelung“ ist etwas anderes: Das kennzeichnende Element
ist die Rückführung des gewünschten Effektes (hier: der gefahrene Kurs) auf die
Steuerung. Rückkopplung eben.
Böse Zungen würden sagen: Die meisten Politiker und
Wirtschaftslenker sind „Steuerer“, denn sie greifen steuernd in einen Prozess
ein und kümmern sich nicht um die Auswirkungen, die ja Rückwirkungen sind. Aber
wie sagte doch Guido Westerwelle auf einem Parteitag im Jahre 2011 fachlich
völlig korrekt: „Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, gibt’s einen, der die
Sache regelt.“ Denn, wie gesagt, der Steuermann ist eigentlich der „Regelmann“.
Übrigens: Der im Vorwort erwähnte Mathematiker Norbert Wiener hat den Begriff „Kybernetik“ geprägt – und das Wort aus dem altgriechischen
kybernétes ‚Steuermann‘ abgeleitet. „Die
Kunst des Steuerns“ beinhaltet also das, was wir korrekt als „Regelung“ bezeichnen. „Steuerung“ im
engeren Sinne ist nur das Festlegen eines gewünschten Wertes („Halbe Kraft
voraus! Kurs 180°!“, sagt der Kapitän), ohne sich um die resultierende
Geschwindigkeit und Fahrtrichtung zu kümmern (die je nach Wind und Strömung von
diesem Sollwert erheblich abweichen kann).
Natürlich muss das technische Prinzip einigermaßen anschaulich erklärt werden:
4.1. Das Prinzip
der Rückkopplung: Die Ausgangsgröße wird zum Eingang
Die Ketten von hintereinander geschalteten Systemen im
Kapitel 3.2 bei Abbildung 3.2 können beliebig lang werden. Das ergibt eine
unkontrollierbare Fortpflanzung von Signalen. Aber noch nichts Dramatisches.
Das entsteht erst durch die Rückkopplung: die Rückführung des Signals an den
Eingang. Jetzt taucht eine wirklich neue Qualität auf. Stellen Sie sich vor,
das Wasser aus der Mündung eines Flusses würde in seine Quelle eingespeist –
der Kern einer Sintflut. Stellen Sie sich ein Buschfeuer in Australien vor, das
sich rasend ausbreitet, aber im Kreis läuft und seinen eigenen Ursprung
erreicht – aus ist das Feuer. Das sind – kurz und knapp – die zwei möglichen
Auswirkungen der Rückkopplung: Aufschaukeln oder Stabilität.
Vermutlich haben Ihnen in der Abbildung 3.2 schon die Finger
gejuckt: Was passiert, wenn wir uns auf diese Art einen „Teufelskreis“ bauen?
Dort sahen Sie ja zwei Systeme f und g hintereinander. Wir führen den Ausgang z
des Systems g in den Eingang x des Systems f zurück. Wir könnten natürlich auch
nur das System f kurzschließen – der Effekt wäre derselbe. Und, nebenbei, was
wir als System festlegen, ist weitgehend in unser Belieben gestellt. Es hängt
von der Frage ab, welche Größen wir untersuchen wollen. Ist es zum Beispiel bei
einem Heizungssystem die Abhängigkeit der Raumtemperatur von der Menge der
hineingesteckten elektrischen Energie, dann ist eben das komplette
Heizungssystem ein einziges System – egal, ob es intern noch aus irgendwelchen
Subsystemen besteht. Interessiert die Geschwindigkeit eines Autos in
Abhängigkeit von der Stellung des Gashebels, dann ist das komplette Auto ein
System, samt seiner Untersysteme wie Motor, Getriebe usw. Untersuchen wir
umgekehrt die Abhängigkeit der Stellung des Gashebels von der Geschwindigkeit,
dann ist der Fahrer des Autos das System.
Wir führen nun also einfach die Ausgangsgröße z in den
Eingang der Kette zurück (Abbildung 4.1). In der Biologie gäbe es eine
Analogie, denn die oben beschriebene Nahrungskette endet ja nicht beim Menschen,
der einen dicken Fisch gefangen hat. Auch wir stellen Nahrung dar, vielleicht
für Bakterien, die wieder am Anfang der Nahrungskette stehen. Denn die Natur
kennt kaum offene Ketten, bei denen etwas verbraucht wird und am Ende etwas
übrig bleibt, sondern überwiegend Kreisläufe. Und der Regelkreis, den wir
gebaut haben, ist ja ein Kreislauf. Aber ich schweife ab, das kommt in Kapitel
6.
Wenn also x eine Ventilstellung ist und f ein Dampf
erzeugendes System, dann ist y die resultierende Dampfmenge. Sie wird in eine
Turbine g eingespeist und erzeugt eine Drehzahl z. Die wiederum erhöht durch
die Rückkopplung (mit geeigneten technischen Geräten) die Öffnung des Ventils,
wodurch eine größere Dampfmenge produziert wird. Eine schöne Konstruktion! Das
geht gar nicht! Denn irgendwann dreht die Turbine durch, weil die ständig
steigenden Dampfmengen zu einer überhöhten Drehzahl führen. Ein „Teufelskreis“!
Die Lösung springt Ihnen sofort ins Auge: Eine höhere Drehzahl muss die
Ventilstellung vermindern. Im linken Kreis in Abbildung 4.1 muss die Drehzahl
subtrahiert werden, wie Sie sehen: x minus z. Die „negative Rückkopplung“ ist
geboren: der „Regelkreis“.
Aber haben wir jetzt nicht einen „negativen Teufelskreis“
gebaut? Die Turbine bleibt stehen, weil irgendwann der Dampf auf null
gedrosselt wird? Denken Sie mit: Ist die Drehzahl z hoch, dann ist x–z klein
und die Turbine bekommt weniger Dampf. Ist dann z kleiner, ist x–z wieder
größer und mehr Dampf wird in die Turbine hineingelassen. Wodurch z wieder
größer und x–z wieder kleiner wird. Was wie eine Paradoxie aussieht, die ins
Kapitel 2.2 gehört, funktioniert perfekt. James Watt hat es erfunden und ist
damit berühmt geworden: den Fliehkraftregler (Einzelheiten können technisch
Interessierte im Internet nachlesen). Er hat die Dampfmaschine, die bis dahin
unkontrollierbar war, erst brauchbar gemacht. Ihr Erfinder, Thomas Newcomen,
hatte 1712 die erste verwendbare Dampfmaschine konstruiert, wurde aber fast
vergessen. Und negative Rückkopplung ist das Zauberwort für dieses einfache,
aber geniale Konzept der Drehzahlregelung.
Natürlich ist auch hier wieder Platz für einen einfachen
zyklischen Spruch: DIE URSACHE BEWIRKT
DIE WIRKUNG BEWIRKT DIE URSACHE.
Aber den meisten Raum nehmen Geschichten aus dem Leben ein, z. B.
9.4. „Die Märkte“ – ein vernetztes System
Eine klassische Geschichte aus der Welt der Börse haben wir
ja schon in Kapitel 1.6 behandelt. Nun darf natürlich auch der „Börsenguru“
schlechthin, der legendäre André Kostolany, nicht fehlen. Er beschreibt in
seinem Buch einen der ersten großen „Schwarzen Freitage“ vom 24. September
1869. Der heute noch besonders bekannte Tag, der Zusammenbruch der New Yorker
Börse 1929 mit der darauf folgenden Weltwirtschaftskrise, war eigentlich ein
„Schwarzer Donnerstag“. Nur in Europa kam er als „Schwarzer Freitag“ an, da es
hier bereits nach Mitternacht war.
Der allererste Black Friday fand im Dezember 1745 statt,
aber wir wollen Kostolanys Geschichte folgen, weil er für unser Thema besonders
interessante Wechselwirkungen zeigt.
Ein Pearl Harbour der
Börse
Gold ist ja ein besonderer Stoff. In der Wirtschaft diente
es zu dieser Zeit noch als Währungsreserve. Während des amerikanischen
Bürgerkrieges war das Papiergeld in den USA stark angeschwollen, und die amerikanische
Regierung versuchte den Dollar durch den Verkauf von Gold zu stützen. Zwei üble
Spekulanten, Jay Gould und James Fisk, rochen den Braten und versuchten mit
Bestechungsgeldern den Zeitpunkt des Eingriffs hinauszuzögern, was ihnen auch
glückte. Zuerst kauften sie auf eigene Rechnung Gold, dann engagierten sie
zwölf Börsenhändler mit dem Auftrag, Gold zu kaufen, um den Preis in die Höhe
zu treiben. Das gelang ihnen auch: Angesichts des ständig steigenden Goldkurses
(und des damit einhergehenden Preisverfalls für den Dollar) stiegen immer mehr
Händler ein und trieben den Goldpreis weiter in die Höhe.
Am 23. September 1869 verkündete ein Telegramm des
Präsidenten, dass die Regierung am Markt intervenieren würde. Die beiden
Halunken ließen sich davon scheinbar nicht beeindrucken, sondern wiesen ihre
Broker an, weiterhin Gold zu kaufen. In Wirklichkeit aber stießen sie heimlich
ihre gesamten Bestände ab – zu akzeptablen Preisen, denn die gleichzeitigen
Käufe täuschten eine Beruhigung des Marktes vor. Nach dem Eingreifen der
Regierung begann der Goldpreis erst langsam, dann immer schneller zu sinken. Am
Abend dieses Tages waren die Verluste aller Beteiligten (mit Ausnahme von Gould
und Fisk) enorm. Die beiden weigerten sich auch, die von ihren Maklern
gekauften Goldmengen abzunehmen und zu bezahlen. Sie behaupteten einfach, diese
mündlichen Aufträge (damals galt in manchen Kreisen noch das Wort des ehrlichen
Kaufmanns) nie erteilt zu haben. Also reihten sich ihre Broker in die Schar der
bankrotten Börsenmakler ein, und Gould und Fisk rieben sich kaltblütig die Hände.
Danach wandten sie sich dem Eisenbahngeschäft zu, um dort ihr Gangstertum
fortzusetzen (Kostolany verwandelte das in seinem Buch schon vor 30 Jahren in
den Begriff „Bangstertum“). Charakteristisch für diese und unzählige folgende
Spekulationen mit Gütern aller Art ist das positive Feedback, verbunden mit manchmal
natürlichen, manchmal bewusst kalkulierten Zeitverzögerungen – der „Totzeit“,
über die wir schon gesprochen haben.
Vorbemerkung des Autors
„Alles hängt mit allem zusammen“ – diesen Spruch hört man
oft von Esoterikern, und alle nicken tiefsinnig. Es ist sogar eine
der wichtigsten Grundvorstellungen des tibetischen Buddhismus. Jetzt fehlt noch
„die alles umfassende Liebe“ und schon ist man in der transzendenten Sphäre
fernöstlicher Weisheit gelandet. Und damit jenseits unserer Wirklichkeit (die
einen ja oft erschreckt und ängstigt, weil sie so undurchschaubar ist – weshalb
man sich an solche „einfachen Wahrheiten“ klammert).
Aber das ist natürlich Unsinn! Mein gelber
Plastikeierbecher hängt nicht mit einem Kaninchen-knochen im australischen Busch
zusammen und auch nicht mit dem Vorderreifen eines Autos in Kalifornien. Oder
vielleicht doch? Vielleicht stammen die Kohlenstoffatome in diesen drei Dingen
alle aus demselben Stern?! Aber das ist erstens ziemlich unwahrscheinlich,
zweitens nicht nachzuweisen und drittens völlig bedeutungslos. Der Rationalist
stößt sich nämlich am Wörtchen „alles“ und formuliert es lieber korrekt: „Es
hängt mehr miteinander zusammen, als man denkt.“ So kommen wir der Wirklichkeit
näher, und zwar im doppelten Sinn. Denn „Wirklichkeit“ kommt ja von
„Wirkung“ – und die muss nach
allgemeiner Meinung eine Ursache haben. Oder – wie gesagt – mehrere oder gar
viele, ein ganzes Netz von Ursachen und Wirkungen. Und das ist unser Thema. Wie
hängen Ursachen und Wirkungen zusammen? Vielleicht beißen sie sich wie die
Katze in den Schwanz und formen gar einen „Teufelskreis“?! Diesen Fragen wollen
wir in unterschiedlichen Gebieten anhand vieler Beispiele nachgehen.
Das Thema fasziniert mich seit meiner ersten Begegnung mit
meinem großartigen Lehrer Winfried Oppelt, in dessen „Handbuch
technischer Regelvorgänge“ ich noch gerne schaue. So einfach das Prinzip ist,
so nahezu unüberschaubar ist die Vielfalt der darauf beruhenden Erscheinungen
und der mit ihm zusammenhängenden Themen. Wir werden sie alle ausführlich
beleuchten und ihr komplexes Zusammenwirken illustrieren.
Ich habe versucht, Fakten und Tatsachen zu schildern und
Zusammenhänge zwischen ihnen herzustellen. Aber natürlich, wenn man alles
zusammenkocht, scheint auch das durch, was Wikipedia® POV (point of view) nennt: ein Standpunkt. Obwohl ich es lieber ein
Weltbild nennen
würde, denn der Mathematiker David Hilbert sagte: „Manche Menschen haben einen
Gesichtskreis vom Radius null und nennen ihn ihren Standpunkt.“ Dieses Weltbild
müssen Sie nicht teilen, aber es sollte Ihnen zu denken geben. Im wahrsten Sinn
des Wortes. Denn: „Nicht die Dinge verwirren die Menschen, sondern die
Meinungen über die Dinge.“[1]
Dies ist keine Doktorarbeit, in der Neues präsentiert
werden muss. Es handelt sich um vorhandenes, zum Teil weit verbreitetes Wissen.
Bibliotheken sind voll davon. Oft ist es im Internet nachlesbar (mit Hilfe der
im Register genannten Stichwörter), vor allem in den großen Enzyklopädien. Aus
Gründen der Lesbarkeit wurde weitestgehend auf Fußnoten verzichtet, aber im
Text wird auf alle verwendete Literatur hingewiesen (z. B., wenn ein Autor oder
ein Buchtitel genannt wird), und sie wird im Literaturverzeichnis angegeben. Mein
Vorhaben war es, die Dinge und Tatsachen zusammenzutragen wie ein Eichhörnchen
die Nüsse. Harte habe ich zu knacken versucht, um zu ihrem Kern vorzudringen.
Ich habe versucht, Querverbindungen und Gemeinsam-keiten aufzuzeigen. Es wurde
„nur“ Wert auf die verständliche Darstellung von Zusammenhängen und eine klare
Sprache gelegt. Sie werden Fachbegriffen begegnen: Fremdwörtern („Symbiose“),
die erklärt werden (oft mit ihrer Wortherkunft), und Begriffen aus der
Alltagssprache („Rückkopplung“), die in unserem Thema eine eingeschränkte oder
spezielle Bedeutung haben. Und manchmal beides in einem – ein in die
Alltagssprache gewandertes Fremdwort mit einer ungewohnten Bedeutung („Funktion“).
Ich habe auch freizügig Gebrauch von Anführungszeichen gemacht für Begriffe,
die ohne großes Nachdenken umgangssprachlich verwendet werden, bei genauerem
Hinsehen aber durchaus diskussionswürdig sind.
Wir werden uns in unterschiedlichen Fachgebieten bewegen,
aber ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit oder Detailtreue. Es ist ja klar,
dass keines der vielen Gebiete, auf denen Feedback
eine Rolle spielt, hier auch nur annähernd vollständig behandelt werden kann. Niemand ist mehr in der Lage, Ihnen „die
Welt zu erklären“. Selbst in einem engen Wissensgebiet (z. B. Molekular-biologie
oder Quantenphysik) braucht es Jahre des Studiums, um sich das gesamte Wissen
zu erarbeiten (sofern das überhaupt gelingt). Sie sollen hier nur den engen
Horizont der unmittelbaren Erfahrung überschreiten lernen und erkennen können,
was sich hinter den oft verwirrenden Erscheinungen abspielt. Die Beispiele aus
verschiedenen Bereichen (in Kapitel 1 und ab Kapitel 5) sind willkürlich ausgewählt und weder repräsentativ
noch umfassend. Vielleicht fragt die eine oder andere Fachperson für das Gebiet
XY verwundert: „Warum hat er denn nicht daran
gedacht?! Das ist doch ein Paradebeispiel für Feedback!“ Daran zweifle ich nicht, weil es unausweichlich ist –
allein der Begriff „Teufelskreis“ hat im Internet über zwei Millionen
Fundstellen. Dann kann ich nur entschuldigend sagen: „Da sieht man mal, wie
weit verbreitet das Prinzip der Rückkopplung ist.“ Es fehlt hier an fast allem
auf diesem Gebiet, von a („autogenes
Training“) bis z („Zyklon“). Doch um
mit Johann Wolfgang von Goethe zu sprechen: „In der Beschränkung zeigt sich
erst der Meister.“ Aber das ist vermutlich etwas zu unbescheiden.
In den letzten 100 Jahren haben sich (wie in den
Jahrhunderten davor) wissenschaftliche Revolutionen ereignet und unser Weltbild verändert, zum Teil sogar umgestülpt. Vieles
davon ist in das öffentliche Bewusstsein gedrungen. Doch in einem Teilbereich
fehlt dieses grundsätzliche Verständnis noch: dort, wo wir es mit einer
nichtlinearen Dynamik und rückgekoppelten Regelkreisen zu tun haben. Diese
Begriffe sagen Ihnen nichts? Sag’ ich doch! Was das ist und was das für uns
bedeutet, davon handelt dieses Buch. Denn evolutionsgeschichtlich stehen wir an
einem Scheide-punkt: Eine Spezies verändert nachhaltig die Umwelt, die sie erst
hervorgebracht hat. Doch wir haben unsere Lektion noch nicht gelernt. Obwohl der
amerikanische Mathematiker Norbert Wiener schon 1948 das Buch „Kybernetik. Regelung und
Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine“ schrieb. Unser
Frühmenschen-Gehirn ist zwar ein Überlebensinstrument, aber offensichtlich nur für
eine einfache lineare Welt, in der eine
Wirkung eine Ursache hat und damit basta! Nichtlineare Zusammenhänge,
vernetzte Systeme, rückgekoppelte Prozesse durchschauen wir nicht – wenn wir
sie überhaupt erkennen. Ein Wunder, dass wir es so weit gebracht haben!
Und schließlich eine letzte Bemerkung: Alle nachstehenden
Geschichten verwenden das sogenannte generische Masukulinum, also zum Beispiel
Trainer statt Trainer/-in, weil ich mich für eine bessere Lesbarkeit im
Interesse aller Leserinnen und Leser entschieden habe. Im Übrigen war auch das
Schreiben dieses Buches ein Feedback-Prozess:
Die Ideen kommen beim Schreiben wie der Appetit beim Essen.
[1] Ausspruch des antiken
griechischen Philosophen und Stoikers Epiktet (ca. 50–138 n. Chr.).
Leseproben
Das allgemeine Prinzip wird mit einer kleinen Geschichte illustriert:
1.2. Der Kadett lernt steuern
In aller Welt setzt die Marine Segelschulschiffe ein, um
jungen Kadetten die Grundlagen der Seemannschaft beizubringen. Es fördert den
Teamgeist, es bildet den Charakter. Man lernt sogar nützliche Dinge, die man
auch später auf einem Schnellboot gebrauchen kann. Zum Beispiel Kurs zu halten. Auf hoher See kann man nicht einfach auf einen
Punkt zufahren, einen Berg oder einen Kirchturm, denn man sieht ja nur Wasser.
Der Kurs wird am Kompass abgelesen. Von oben gesehen sieht er aus wie in Abbildung 1.2 links. Er hat eine Gradeinteilung, und 360° zeigt
genau nach Norden. Sieht man von schräg vorne darauf, dann sieht man, dass das
Schiff im Augenblick den Kurs 240° fährt (Abbildung
1.2 rechts).
Abbildung 1.2: Eine Windrose und ein Kompass
Neben unserem Kadetten steht der erfahrene Steuermann. Sie
zum Beispiel. Jetzt habe Sie das Kommando und der Offiziersschüler muss folgen.
Sie übergeben das Ruder (so sagt man auf einem Schiff zum Steuer, mit dem man
nicht rudert, sondern steuert) an den neuen „Rudergänger“ (so der Fachausdruck). „Kurs
240“, sagen Sie knapp und der Rudergänger bestätigt, wie es Vorschrift ist: „Kurs
240. Aye, aye, Sir!“
Nun kann man auf einem Schiff nicht das Ruder feststellen
und es fährt stur diesen Kurs. Wind und Wellen drehen es seitlich weg, sei es
auch noch so behäbig. Also schauen Sie nach zwei Minuten wieder hin und sehen
„245“ auf der Anzeige. Nun ist an Bord keine Zeit für lange Erklärungen oder Hinweise,
deswegen sagen Sie einfach, mit Betonung auf dem Zahlenwert: „Kurs 240, Maat!“ Der Rudergänger hat es auch
schon bemerkt, und deswegen bilden sich leichte Schweißperlen auf seiner Stirn.
Er hatte schon ein wenig gegengesteuert, also so getan, als wolle er 235
fahren. Aber das Schiff ist groß, schwer und träge. Also legt er noch ein wenig
mehr Ruder.
Jetzt beginnt es sich zu bewegen: 245 – 240 – 235 – … Es
schwenkt zügig über den gewünschten und befohlenen Kurs hinweg, und der arme
Kadett versucht diese Drehbewegung aufzufangen. Er steuert wieder dagegen,
diesmal in die andere Richtung. Das verdammte Schiff aber dreht sich weiter,
ist schon bei 230. Endlich zeigt das Ruder eine Wirkung. Die Kompassnadel
bewegt sich wieder auf die 240 zu.
Der Rudergänger atmet auf, aber er freut sich zu früh.
Weil er in seiner Panik bei 235 noch einmal kräftig am Rad gedreht hatte, dreht
sich das Schiff jetzt flott über die 240 hinaus zur 245, dann zur 250. Innerlich
grinsen Sie ein wenig, lassen es sich aber nicht anmerken. Denn Sie sind ein
erfahrener Steuermann und er nur ein einfacher Kadett. Sie wissen, dass er
weiß, dass Sie wissen, dass es so schiefläuft. Denn das kann nicht richtig
sein. Er kennt den verächtlichen Spruch: „Der fährt ja wieder Pissbögen!“ Jetzt
hat er gelernt, wie er es nicht
machen darf. Aber was kann er tun? Er blickt Sie fragend an.
Sie sagen etwas von „Antizipation“. Ein Wort, das er nicht
versteht. Sie erklären es: vorausschauendes Handeln. Er darf das Steuerrad
nicht zu weit drehen, obwohl er es möchte, denn das System reagiert träge. Das
ist die eine Regel. Die andere erfordert schon ein wenig mehr Gefühl: Er muss
an der Kraft auf dem Ruder merken, wenn eine Welle das Schiff zu drehen
versucht. Denn das Ruderblatt am Heck des Schiffes wirkt über die Seilzüge auf
das Steuerrad zurück – so, wie Sie beim Autofahren in der Kurve eine Rückstellkraft
am Lenkrad spüren. Auf diese Kraft muss er reagieren und nicht auf die viel
später einsetzende Änderung der Kompassanzeige.
Vier Tage und ein paar hundert Seemeilen später steuerte
der Kadett mit stolzgeschwellter Brust das Schiff wie auf einem Lineal durch
die See, unbeeindruckt von Windböen und Wellenschlag. Das Prinzip war von
seinem Verstand in sein Unterbewusstes gewandert. Die Art seiner Regelung des
Kurses hatte sich verändert: Die Kompassanzeige war nur noch ein Hilfsmittel
zur Nachkorrektur, nicht mehr die Größe, die seine Gegenreaktion auslöste. Denn
ein Gegensteuern, also im Fachjargon eine „negative Rückkopplung“, war es immer noch. Doch
nicht die Abweichung der zu regelnden Größe (des Kompasskurses) vom Sollwert bewirkte seinen Eingriff, sondern ein damit
zusammenhängendes, aber früher bemerkbares Signal: der Ruderdruck. Das verkürzt
die Reaktionszeit des Systems.
Das wiederum erhöht die Stabilität, vermindert also die
Abweichung vom Sollwert. „Sollwert“, so heißt in der
Fachsprache der Wert, den das System einnehmen soll. Daher der Name. Das, was
der Steuermann dem Rudergänger vorgegeben hat. Der „Istwert“ dagegen ist der
augenblickliche Wert des Systems – das, was der Rudergänger am Kompass abliest.
Stabilität – das ist es, was wir in der Regel von einem Feedback erwarten. Aus einem unkontrollierten Prozess
(der offenen Kette von Ursache und Wirkung aus dem ersten Beispiel) soll ein
geregelter Prozess werden, der unter kontrollierten Bedingungen
stabil bleibt.
Wir sehen hier also einen wesentlichen Unterschied:
„Steuerung“ ist sozusagen eine „offene Wirkungskette“ ohne
Rückmeldung und Korrektur. Das Steuer wird auf einen bestimmten Wert festgelegt
(„Kurs 240“) und dann festgebunden. Keiner kümmert sich mehr darum, wohin das
Schiff wirklich fährt. „Regelung“ ist etwas anderes: Das kennzeichnende Element
ist die Rückführung des gewünschten Effektes (hier: der gefahrene Kurs) auf die
Steuerung. Rückkopplung eben.
Böse Zungen würden sagen: Die meisten Politiker und
Wirtschaftslenker sind „Steuerer“, denn sie greifen steuernd in einen Prozess
ein und kümmern sich nicht um die Auswirkungen, die ja Rückwirkungen sind. Aber
wie sagte doch Guido Westerwelle auf einem Parteitag im Jahre 2011 fachlich
völlig korrekt: „Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, gibt’s einen, der die
Sache regelt.“ Denn, wie gesagt, der Steuermann ist eigentlich der „Regelmann“.
Übrigens: Der im Vorwort erwähnte Mathematiker Norbert Wiener hat den Begriff „Kybernetik“ geprägt – und das Wort aus dem altgriechischen
kybernétes ‚Steuermann‘ abgeleitet. „Die
Kunst des Steuerns“ beinhaltet also das, was wir korrekt als „Regelung“ bezeichnen. „Steuerung“ im
engeren Sinne ist nur das Festlegen eines gewünschten Wertes („Halbe Kraft
voraus! Kurs 180°!“, sagt der Kapitän), ohne sich um die resultierende
Geschwindigkeit und Fahrtrichtung zu kümmern (die je nach Wind und Strömung von
diesem Sollwert erheblich abweichen kann).
Natürlich muss das technische Prinzip einigermaßen anschaulich erklärt werden:
4.1. Das Prinzip
der Rückkopplung: Die Ausgangsgröße wird zum Eingang
Die Ketten von hintereinander geschalteten Systemen im
Kapitel 3.2 bei Abbildung 3.2 können beliebig lang werden. Das ergibt eine
unkontrollierbare Fortpflanzung von Signalen. Aber noch nichts Dramatisches.
Das entsteht erst durch die Rückkopplung: die Rückführung des Signals an den
Eingang. Jetzt taucht eine wirklich neue Qualität auf. Stellen Sie sich vor,
das Wasser aus der Mündung eines Flusses würde in seine Quelle eingespeist –
der Kern einer Sintflut. Stellen Sie sich ein Buschfeuer in Australien vor, das
sich rasend ausbreitet, aber im Kreis läuft und seinen eigenen Ursprung
erreicht – aus ist das Feuer. Das sind – kurz und knapp – die zwei möglichen
Auswirkungen der Rückkopplung: Aufschaukeln oder Stabilität.
Vermutlich haben Ihnen in der Abbildung 3.2 schon die Finger
gejuckt: Was passiert, wenn wir uns auf diese Art einen „Teufelskreis“ bauen?
Dort sahen Sie ja zwei Systeme f und g hintereinander. Wir führen den Ausgang z
des Systems g in den Eingang x des Systems f zurück. Wir könnten natürlich auch
nur das System f kurzschließen – der Effekt wäre derselbe. Und, nebenbei, was
wir als System festlegen, ist weitgehend in unser Belieben gestellt. Es hängt
von der Frage ab, welche Größen wir untersuchen wollen. Ist es zum Beispiel bei
einem Heizungssystem die Abhängigkeit der Raumtemperatur von der Menge der
hineingesteckten elektrischen Energie, dann ist eben das komplette
Heizungssystem ein einziges System – egal, ob es intern noch aus irgendwelchen
Subsystemen besteht. Interessiert die Geschwindigkeit eines Autos in
Abhängigkeit von der Stellung des Gashebels, dann ist das komplette Auto ein
System, samt seiner Untersysteme wie Motor, Getriebe usw. Untersuchen wir
umgekehrt die Abhängigkeit der Stellung des Gashebels von der Geschwindigkeit,
dann ist der Fahrer des Autos das System.
Wir führen nun also einfach die Ausgangsgröße z in den
Eingang der Kette zurück (Abbildung 4.1). In der Biologie gäbe es eine
Analogie, denn die oben beschriebene Nahrungskette endet ja nicht beim Menschen,
der einen dicken Fisch gefangen hat. Auch wir stellen Nahrung dar, vielleicht
für Bakterien, die wieder am Anfang der Nahrungskette stehen. Denn die Natur
kennt kaum offene Ketten, bei denen etwas verbraucht wird und am Ende etwas
übrig bleibt, sondern überwiegend Kreisläufe. Und der Regelkreis, den wir
gebaut haben, ist ja ein Kreislauf. Aber ich schweife ab, das kommt in Kapitel
6.
Wenn also x eine Ventilstellung ist und f ein Dampf
erzeugendes System, dann ist y die resultierende Dampfmenge. Sie wird in eine
Turbine g eingespeist und erzeugt eine Drehzahl z. Die wiederum erhöht durch
die Rückkopplung (mit geeigneten technischen Geräten) die Öffnung des Ventils,
wodurch eine größere Dampfmenge produziert wird. Eine schöne Konstruktion! Das
geht gar nicht! Denn irgendwann dreht die Turbine durch, weil die ständig
steigenden Dampfmengen zu einer überhöhten Drehzahl führen. Ein „Teufelskreis“!
Die Lösung springt Ihnen sofort ins Auge: Eine höhere Drehzahl muss die
Ventilstellung vermindern. Im linken Kreis in Abbildung 4.1 muss die Drehzahl
subtrahiert werden, wie Sie sehen: x minus z. Die „negative Rückkopplung“ ist
geboren: der „Regelkreis“.
Aber haben wir jetzt nicht einen „negativen Teufelskreis“
gebaut? Die Turbine bleibt stehen, weil irgendwann der Dampf auf null
gedrosselt wird? Denken Sie mit: Ist die Drehzahl z hoch, dann ist x–z klein
und die Turbine bekommt weniger Dampf. Ist dann z kleiner, ist x–z wieder
größer und mehr Dampf wird in die Turbine hineingelassen. Wodurch z wieder
größer und x–z wieder kleiner wird. Was wie eine Paradoxie aussieht, die ins
Kapitel 2.2 gehört, funktioniert perfekt. James Watt hat es erfunden und ist
damit berühmt geworden: den Fliehkraftregler (Einzelheiten können technisch
Interessierte im Internet nachlesen). Er hat die Dampfmaschine, die bis dahin
unkontrollierbar war, erst brauchbar gemacht. Ihr Erfinder, Thomas Newcomen,
hatte 1712 die erste verwendbare Dampfmaschine konstruiert, wurde aber fast
vergessen. Und negative Rückkopplung ist das Zauberwort für dieses einfache,
aber geniale Konzept der Drehzahlregelung.
Natürlich ist auch hier wieder Platz für einen einfachen
zyklischen Spruch: DIE URSACHE BEWIRKT
DIE WIRKUNG BEWIRKT DIE URSACHE.
Aber den meisten Raum nehmen Geschichten aus dem Leben ein, z. B.
9.4. „Die Märkte“ – ein vernetztes System
Eine klassische Geschichte aus der Welt der Börse haben wir
ja schon in Kapitel 1.6 behandelt. Nun darf natürlich auch der „Börsenguru“
schlechthin, der legendäre André Kostolany, nicht fehlen. Er beschreibt in
seinem Buch einen der ersten großen „Schwarzen Freitage“ vom 24. September
1869. Der heute noch besonders bekannte Tag, der Zusammenbruch der New Yorker
Börse 1929 mit der darauf folgenden Weltwirtschaftskrise, war eigentlich ein
„Schwarzer Donnerstag“. Nur in Europa kam er als „Schwarzer Freitag“ an, da es
hier bereits nach Mitternacht war.
Der allererste Black Friday fand im Dezember 1745 statt,
aber wir wollen Kostolanys Geschichte folgen, weil er für unser Thema besonders
interessante Wechselwirkungen zeigt.
Ein Pearl Harbour der
Börse
Gold ist ja ein besonderer Stoff. In der Wirtschaft diente
es zu dieser Zeit noch als Währungsreserve. Während des amerikanischen
Bürgerkrieges war das Papiergeld in den USA stark angeschwollen, und die amerikanische
Regierung versuchte den Dollar durch den Verkauf von Gold zu stützen. Zwei üble
Spekulanten, Jay Gould und James Fisk, rochen den Braten und versuchten mit
Bestechungsgeldern den Zeitpunkt des Eingriffs hinauszuzögern, was ihnen auch
glückte. Zuerst kauften sie auf eigene Rechnung Gold, dann engagierten sie
zwölf Börsenhändler mit dem Auftrag, Gold zu kaufen, um den Preis in die Höhe
zu treiben. Das gelang ihnen auch: Angesichts des ständig steigenden Goldkurses
(und des damit einhergehenden Preisverfalls für den Dollar) stiegen immer mehr
Händler ein und trieben den Goldpreis weiter in die Höhe.
Am 23. September 1869 verkündete ein Telegramm des
Präsidenten, dass die Regierung am Markt intervenieren würde. Die beiden
Halunken ließen sich davon scheinbar nicht beeindrucken, sondern wiesen ihre
Broker an, weiterhin Gold zu kaufen. In Wirklichkeit aber stießen sie heimlich
ihre gesamten Bestände ab – zu akzeptablen Preisen, denn die gleichzeitigen
Käufe täuschten eine Beruhigung des Marktes vor. Nach dem Eingreifen der
Regierung begann der Goldpreis erst langsam, dann immer schneller zu sinken. Am
Abend dieses Tages waren die Verluste aller Beteiligten (mit Ausnahme von Gould
und Fisk) enorm. Die beiden weigerten sich auch, die von ihren Maklern
gekauften Goldmengen abzunehmen und zu bezahlen. Sie behaupteten einfach, diese
mündlichen Aufträge (damals galt in manchen Kreisen noch das Wort des ehrlichen
Kaufmanns) nie erteilt zu haben. Also reihten sich ihre Broker in die Schar der
bankrotten Börsenmakler ein, und Gould und Fisk rieben sich kaltblütig die Hände.
Danach wandten sie sich dem Eisenbahngeschäft zu, um dort ihr Gangstertum
fortzusetzen (Kostolany verwandelte das in seinem Buch schon vor 30 Jahren in
den Begriff „Bangstertum“). Charakteristisch für diese und unzählige folgende
Spekulationen mit Gütern aller Art ist das positive Feedback, verbunden mit manchmal
natürlichen, manchmal bewusst kalkulierten Zeitverzögerungen – der „Totzeit“,
über die wir schon gesprochen haben.
Die Ketten von hintereinander geschalteten Systemen im Kapitel 3.2 bei Abbildung 3.2 können beliebig lang werden. Das ergibt eine unkontrollierbare Fortpflanzung von Signalen. Aber noch nichts Dramatisches. Das entsteht erst durch die Rückkopplung: die Rückführung des Signals an den Eingang. Jetzt taucht eine wirklich neue Qualität auf. Stellen Sie sich vor, das Wasser aus der Mündung eines Flusses würde in seine Quelle eingespeist – der Kern einer Sintflut. Stellen Sie sich ein Buschfeuer in Australien vor, das sich rasend ausbreitet, aber im Kreis läuft und seinen eigenen Ursprung erreicht – aus ist das Feuer. Das sind – kurz und knapp – die zwei möglichen Auswirkungen der Rückkopplung: Aufschaukeln oder Stabilität.
Aber den meisten Raum nehmen Geschichten aus dem Leben ein, z. B.
9.4. „Die Märkte“ – ein vernetztes System
Eine klassische Geschichte aus der Welt der Börse haben wir
ja schon in Kapitel 1.6 behandelt. Nun darf natürlich auch der „Börsenguru“
schlechthin, der legendäre André Kostolany, nicht fehlen. Er beschreibt in
seinem Buch einen der ersten großen „Schwarzen Freitage“ vom 24. September
1869. Der heute noch besonders bekannte Tag, der Zusammenbruch der New Yorker
Börse 1929 mit der darauf folgenden Weltwirtschaftskrise, war eigentlich ein
„Schwarzer Donnerstag“. Nur in Europa kam er als „Schwarzer Freitag“ an, da es
hier bereits nach Mitternacht war.
Der allererste Black Friday fand im Dezember 1745 statt,
aber wir wollen Kostolanys Geschichte folgen, weil er für unser Thema besonders
interessante Wechselwirkungen zeigt.
Ein Pearl Harbour der
Börse
Gold ist ja ein besonderer Stoff. In der Wirtschaft diente
es zu dieser Zeit noch als Währungsreserve. Während des amerikanischen
Bürgerkrieges war das Papiergeld in den USA stark angeschwollen, und die amerikanische
Regierung versuchte den Dollar durch den Verkauf von Gold zu stützen. Zwei üble
Spekulanten, Jay Gould und James Fisk, rochen den Braten und versuchten mit
Bestechungsgeldern den Zeitpunkt des Eingriffs hinauszuzögern, was ihnen auch
glückte. Zuerst kauften sie auf eigene Rechnung Gold, dann engagierten sie
zwölf Börsenhändler mit dem Auftrag, Gold zu kaufen, um den Preis in die Höhe
zu treiben. Das gelang ihnen auch: Angesichts des ständig steigenden Goldkurses
(und des damit einhergehenden Preisverfalls für den Dollar) stiegen immer mehr
Händler ein und trieben den Goldpreis weiter in die Höhe.
Am 23. September 1869 verkündete ein Telegramm des
Präsidenten, dass die Regierung am Markt intervenieren würde. Die beiden
Halunken ließen sich davon scheinbar nicht beeindrucken, sondern wiesen ihre
Broker an, weiterhin Gold zu kaufen. In Wirklichkeit aber stießen sie heimlich
ihre gesamten Bestände ab – zu akzeptablen Preisen, denn die gleichzeitigen
Käufe täuschten eine Beruhigung des Marktes vor. Nach dem Eingreifen der
Regierung begann der Goldpreis erst langsam, dann immer schneller zu sinken. Am
Abend dieses Tages waren die Verluste aller Beteiligten (mit Ausnahme von Gould
und Fisk) enorm. Die beiden weigerten sich auch, die von ihren Maklern
gekauften Goldmengen abzunehmen und zu bezahlen. Sie behaupteten einfach, diese
mündlichen Aufträge (damals galt in manchen Kreisen noch das Wort des ehrlichen
Kaufmanns) nie erteilt zu haben. Also reihten sich ihre Broker in die Schar der
bankrotten Börsenmakler ein, und Gould und Fisk rieben sich kaltblütig die Hände.
Danach wandten sie sich dem Eisenbahngeschäft zu, um dort ihr Gangstertum
fortzusetzen (Kostolany verwandelte das in seinem Buch schon vor 30 Jahren in
den Begriff „Bangstertum“). Charakteristisch für diese und unzählige folgende
Spekulationen mit Gütern aller Art ist das positive Feedback, verbunden mit manchmal
natürlichen, manchmal bewusst kalkulierten Zeitverzögerungen – der „Totzeit“,
über die wir schon gesprochen haben.
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