Alternative Medizin hat sich seit Jahrtausenden bewährt
Vielleicht werde ich jetzt übermütig und schreibe mich um
Kopf und Kragen. Etwas Kritisches über „Alternative Medizin“ zu sagen ist fast
ebenso tabuisiert wie ein Angriff auf den religiösen Glauben. Deswegen möchte
ich nur eine kleine Begebenheit erzählen und auf den Zusammenhang dieser
Geschichte mit unserem Thema „Selektive Wahrnehmung und Selbsterfüllende
Prophezeiung“ hinweisen.
Zuerst die Geschichte: Ich erwachte eines Tages mit
Schmerzen in der linken Schulter, die ich auf das nachts geöffnete Fenster und
meine Schlaflage auf der rechten Seite zurückführte. Obwohl ich von da an das
Fenster geschlossen hielt und einige Selbstbehandlungsversuche mit Wärme und
Wärmesalben unternahm, blieben die Beschwerden. Der Besuch bei einem guten
Facharzt ergab die Diagnose: Entzündung (welcher Art, das habe ich vergessen).
Er sagte auch, dass sie spontan aufträte und erfahrungsgemäß nach ein bis zwei
Jahren (!) wieder verschwände. Mehr könne man nicht zur Heilung unternehmen,
aber zur Linderung der Schmerzen seien physiotherapeutische Maßnahmen sicher
angebracht. So begab ich mich in die sanften Hände einer netten jungen Dame,
die mich mit leicht schwäbelnder Stimme in die Geheimnisse ihres Berufes und
die der Astrologie einführte, während sie meinen Arm durch alle
Tierkreiszeichen drehte. Ich verließ die Praxis in angenehmer Trance und in
freudiger Erwartung der versprochenen Linderung. Nach zehn Sitzungen hatte sich
diese zwar noch nicht eingestellt, aber ich hatte auf Krankenschein angenehme
Stunden verlebt.
Eigentlich wäre ich ja zumindest ein perfekter Kandidat für
einen handfesten Placebo-Effekt[1]
gewesen. Man nennt es auch „Kontexteffekt“, und er beruht weitgehend auf Suggestion.
Auslösend sind dabei Faktoren wie eine positive Erwartungshaltung der Patienten
gegenüber den „alternativen Methoden“ bzw. eine negative Haltung gegenüber der
als unwirksam erlebten „Schulmedizin“ oder eine erhöhte Zuwendung des
Behandelnden. Verkürzt gesagt ist es eine „Selbsterfüllende Prophezeiung“: Die
seelenlose Schulmedizin[2] kann
mir nicht helfen, die seit Jahrtausenden bewährte Erfahrungsmedizin ist ihr
weit überlegen. So gibt es viele Heilverfahren, die das Prädikat „Wer heilt,
hat Recht“ genießen, die aber keine überzeugenden spezifischen Wirksamkeitsnachweise
besitzen. Sie haben auch keinen plausiblen Wirkungszusammenhang, kein
verifizierbares Erklärungsmodell. Dazu gehören etwa Homöopathie und Akupunktur.
Es gibt z. B. Studien zum Vergleich von Akupunktur zu einer schulmedizinischen
Therapie[3], die
keine positiven Ergebnisse zeigen, die über den Kontexteffekt hinausgehen. Beispielsweise
haben diese Studien gezeigt, dass Akupunktur auch wirkt, wenn die Meridiane nicht getroffen werden.
Was soll ich Ihnen sagen: Nach etwa acht Monaten erwachte
ich eines Tages ohne Schmerzen in der
linken Schulter – sie kamen nie wieder. Ein „Wunder“, eine Langzeitwirkung der
Physiotherapie, eine „Spontanheilung“, ein Zufall?[4] Eine
so genannte „Spontanheilung“ ist nach neueren Untersuchungen vermutlich eine
Leistung des enorm komplexen und weitgehend unerforschten Immunsystems[5].
Vielleicht war ich unabsichtlich in das Energiefeld eines Fernheilers geraten?
Ich werde es nie wissen. Aber es ist ein weiteres Puzzlesteinchen in meinem
Glauben, der Körper werde oft selbst mit seinen Problemen fertig. Nicht umsonst
gibt es die (Tucholsky zugeschriebene) Regel: „Eine Grippe dauert zwei Wochen,
wenn man etwas dagegen tut, und vierzehn Tage, wenn man nichts dagegen tut“.
Das mag vielleicht bei einer echten Grippe nicht zutreffen, bei einer
„normalen“ Erkältung ist das aber sicher ein Argument.
Den erwähnten Wahlspruch „Wer heilt, hat Recht“ nehmen ja
viele „Heiler“ in Anspruch, die über einen kausalen Zusammenhang zwischen ihren
Bemühungen und dem Resultat nur Verschwommenes äußern können – für das, wenn es
denn stimmen würde, die Gesetze der Physik umgeschrieben werden müssten (man
denke nur an „Fernheilung“ durch Telepathie). Die logische Fortsetzung dieses
Gedankens würde ja bedeuten, dass nicht nur „Heiler“ ihre übernatürlichen
Kräfte auf Menschen anwenden könnten, sondern auch „Unheiler“: Krankmacher,
Hexer und Hexen, Voodoo-Prieser, Flüche statt Gebete. Wollen wir wirklich in
diese mittelalterlichen Wahnvorstellungen zurückfallen? Das überlassen wir doch
lieber den Bühnenmagiern („Mentalisten“) der Uri-Geller-Show. So plötzlich und
unerwartet, wie eine Krankheit kommt, so kann sie doch auch wieder
verschwinden. Das kennt man ja sogar von technischen Apparaten: „Plötzlich geht
er wieder!“.
Therapeuten sind oft nicht im aktiven Sinne Heiler. Die
etymologische[6] Wurzel des Wortes im Altgriechischen
steckt in therapeutés, das bedeutet
„der Diener, Aufwartende, Wärter, Pfleger“. „Therapie“ ist eigentlich ein „zur
Heilung hin begleiten“, und das ist ein sinnvoller ganzheitlicher Ansatz, der
den Kranken in den Vordergrund stellt und das Wirken des Arztes nicht auf eine
bloße Reparatur beschränkt.
Was ist nun aber mit den unbestreitbar zu beobachtenden
Heilungen? Die Heiler, sie sind es ja
nicht, die heilen – es ist der Organismus des Kranken selbst, der es schafft,
die Krankheit zu überwinden. Viele Krankheiten kommen, ohne dass man einen
verlässlichen kausalen Zusammenhang herstellen könnte. Ihr seelische Ursachen
zuzuschreiben, ist vielleicht nicht falsch, schwächt aber die seelische Kraft
des Patienten, der genau diese innere Stärke braucht, um wieder zu gesunden
(das Dogma der „Selbstheiler“). Dass jede Krankheit selbstverschuldet ist oder
Ursachen in der Seele oder der Lebensführung hat, bürdet den Opfern eine zusätzliche
(krankmachende) Last auf und ist ein klassischer Zirkelschluss[7], der
als Selbsterfüllende Prophezeiung gewaltiges Unheil anrichten kann. Aber
vielleicht sind diese okkulten Heilungen auch nur eine konstruierte
Wirklichkeit der Art, wie sie im Bavelas-Experiment in Kapitel 4.1 beschrieben wurde: Ein zufälliges Ereignis (hier die
Heilung) muss erklärt werden, bietet aber kein Erklärungsmuster und wird daher
mit einer abstrus versponnenen Deutung versehen. Ein demütig das Unerklärliche
akzeptierendes „Ich bin krank geworden und ich bin wieder gesund geworden“
würde doch eigentlich ausreichen. Obwohl natürlich niemand bestreitet, dass
positive oder negative Gedanken den Körper beeinflussen können – das weiß jeder
Verliebte oder jeder Kandidat mit Prüfungsangst.
Während wir zum Wirken und Wesen des Zufalls noch viel sagen
werden (Kapitel 11), soll hier der Gesichtspunkt der Selbsterfüllenden
Prophezeiung noch abschließend beleuchtet werden. Es sind die unspezifischen
(psychologischen) Effekte der Behandlung, die zur (begrüßenswerten) Heilung
führen. Die positiven bzw. negativen Erwartungshaltungen der Patienten hatte
ich ja schon erwähnt. Vielleicht gehören die „Heilungsrituale“ mit fremdem
kulturellen Hintergrund oder gar das Erleben einer invasiven Technik (Nadelung)
auch zur Heilungswirkung. Selbst Scheinoperationen erreichen auf manchen
Gebieten die Erfolgsquote realer Eingriffe[8]. Von
Ethikkommissionen werden Scheinoperationen kritisch bewertet. Sie seien nur
dann vertretbar, wenn nur vernachlässigbare Risiken bestehen und der Patient
sorgfältig aufgeklärt werde. (Das bereitet Sie schon auf das Kapitel 8 über Paradoxie vor.) Zumindest gibt es auf diesem
Gebiet viele Anzeichen für eine klassische Konditionierung: das Erlernen von
Reiz-Reaktions-Mustern in der Ausprägung, dass schon ein bestimmter Reiz
(Placebo-Gabe) die Reaktion (Heilung) auslöst – ein „Lernen am Erfolg“.
Und was die „seit Jahrtausenden bewährten“ alternativen Verfahren
angeht: Wenn das Alter das einzige Kriterium ist, dann haben sich auch die
Hinrichtung von Verbrechern, die Beschneidung von Millionen von kleinen Mädchen
und die gesamte Unterdrückung der Frau bewährt. Denn der Volksmund sagt (obwohl
das anders gemeint ist): „Alter schützt vor Torheit nicht.“
Triviale Einsichten:
- Ja zum Heilungsergebnis, nein zum pseudowissenschaftlichen Wirkungszusammenhang.
- Das Alter eines (Aber-)Glaubens ist kein Beweis für seine Richtigkeit.
[1] Im erweiterten Sinne gehören
zum Placebo-Effekt neben wirkstofffreien Medikamenten auch alle anderen
therapeutischen Maßnahmen, die ohne naturwissenschaftlichen Nachweis einer
spezifischen Wirkung trotzdem eine positive Reaktion am Patienten bewirken
können.
[2] Studien haben z. B.
ergeben, dass beim Arzt im Schnitt etwa 8 Minuten für das „Patientengespräch“
aufgewendet werden – Diagnose und
Therapievorschlag.
[3] GERAC (german acupuncture trials = deutsche
Akupunkturstudien) hat 6 Studien im Internet: http://www.gerac.de/.
[4] Wunderheilungen im
Unterschied zu Spontanheilungen widersprechen vermeintlich den bekannten
Naturgesetzen.
[5] „Miracle Survivors“ in
FORTUNE 2.3.2009.
[6] Etymologie (von altgriech.
étymos = wirklich, echt und -logie = die
Lehre von etwas) ist ein Wissenschaftszweig der historischen Linguistik.
[7] Lateinisch: circulus vitiosus (oft auch
umgangssprachlich verwendet), wörtlich: fehlerhafter Kreis.
[8] Jörg Blech: Schattenseite
der Medizin, DER SPIEGEL 35/2005, 29.08.2005, S. 132 und Oliver Wittkowski:
Fortschritte bei der Placebo-Forschung, SWR Fernsehen (Odysso - Wissen
entdecken), 15.11.2007, 22:00.
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